Joshi und Siri

Als die ersten Schüsse fielen, rannten wir. Joshi fasste im Laufen nach meiner Hand, damit wir schneller waren oder vielleicht auch, damit wir uns nicht verlieren konnten, denn um uns herum rannten alle. Die Stadt war ja schon seit einer Weile nicht mehr sicher, aber das klang doch eher danach, als ob da ein Terroranschlag oder ein Bürgerkrieg sei. In der Severinsstraße war eine Demo gewesen. Demos waren ja mittlerweile alltäglich geworden. Überall in der Stadt .Wir beide waren nicht dahin gegangen, denn mittlerweile wusste man schon gar nicht mehr, für oder gegen was da wieder demonstriert wurde. Lieber hatten wir an unserer Stammecke rumgehangen. Wir hatten darauf gewartet, dass ein paar aus der Clique auftauchen würden, aber außer uns beiden war niemand gekommen.
Wohin?“, fragte ich völlig verwirrt. „Erstmal Richtung Rodenkirchen, damit wir so viel Distanz, wie möglich haben. Dann sehen wir weiter.“ Er schien ruhiger zu sein, als ich, und zog mich weiter. Hinter uns knallte es wieder. „Sind das Explosionen?“ „Ja, da scheinen Bomben oder Granaten hochzugehen“, sagte er.
Wir waren in die Bayenstraße eingebogen und rannten jetzt am Rheinufer entlang. Bis beinahe Bayenthal konnte ich mithalten, aber dann war Ende. Ich ließ seine Hand los und blieb gebückt stehen. „Ich kann nicht mehr. Sollen sie kommen und mich erschießen. Ich kann nicht mehr!“ Ich wunderte mich, dass ich noch so viel Luft übrig gehabt hatte, um das herauszubringen. „Okay, gehen wir einfach langsam weiter.“ Er drehte sich um, um die Umgebung mit den Augen abzusuchen. Es waren mehr Autos als sonst, und fast alle in die Richtung unterwegs, in die wir gingen. Hatten wohl eine Menge Leute mitbekommen, was gerade passierte. „Ob sie das schon im Radio durchgegeben haben?, fragte er mich. „Ich check mal im Fratzenbuch, was darüber zu finden ist.“ Aber als ich mein Handy rausholen wollte, bemerkte ich, dass ich es wohl verloren hatte. „Mein Handy ist weg“, Panik kroch in mir hoch. Ich wollte zurück, um es zu suchen, aber Joshi hielt mich fest. „Das hat keinen Sinn. Wenn es nicht kaputt ist, dann hat es jemand eingesteckt. Und für ein Handy wirst du doch nicht deinen Hals riskieren wollen?“
Du hast gut reden, ohne das Teil bin ich nackt.“
Ja. Aber lieber nackt, als tot.“
Aber wie sollen wir denn jetzt rausfinden, was los ist?“, jammerte ich verzweifelt. „Mir wird schon was einfallen“, seine Gelassenheit brachte mich auf die Palme, wie so oft. Er war wohl der einzige Junge auf dem Planeten, der kein Handy hatte. Einmal hatte er eines besessen, aber nachdem es ihm geklaut worden war, hatte er kein neues mehr bekommen. Er schien es gar nicht zu vermissen, obwohl er dadurch in der Clique immer eher ein belächelter Außenseiter war. Er war überhaupt anders, als die anderen. Es kümmerte ihn wenig, was er trug oder herumzeigen konnte. Und er schien sich auch nicht um die Hänseleien der anderen zu kümmern, sondern lachte mit den anderen über sich selbst und hatte immer einen witzigen Spruch auf Lager. Nur so hatte er es überhaupt in die Clique geschafft. Selina hatte ihm z.B. einmal ihr Parfüm ans Tshirt gesprüht. In komischer Verzweiflung wischte er darüber und rief: „Ich wusste schon immer, dass ihr Weiber uns umbringen wollt, aber jetzt weiß ich auch, wie ihr das anstellt. Erstinken ist kein schöner Tod, meine Liebe.“ Und als Leon ihn einmal Blindschleiche genannt hatte, wegen der Brille, die er trug, sagte er grinsend: „An dich schleich in mich auch blind ran, um dich in den Dreck zu legen.“ Als Judoka hätte er das übrigens auch gekonnt, - so viel dazu, meine sehr vererht`n Dam` un Herren.
Wir sollten mal schauen, ob wir über die Brücke kommen. Hier scheint ja noch alles ruhig zu sein, aber drüben würd ich mich trotzdem sicherer fühlen“, sagte er.
Was sagt dir, dass sich die Sachen nicht sehr schnell auch nach drüben ausweiten? Ich mein, sollten wir nicht lieber nach Hause gehen? Meine Mom wird vor Angst außer sich sein. Die wird sofort freigenommen haben und schon bald daheim sein, um auf mich zu warten. Was, wenn der was passiert, nur weil sie vergeblich auf mich gewartet hat? Und was ist mit deinen Eltern, meinst du, die haben keine Angst um dich?“ Ich war langsam wieder zu Verstand gekommen und konnte die Lage jetzt ruhiger bedenken. „Ich hab nur meine Mom und wenn der was passiert, würden sie mich in ein Heim stecken. Der letzte Ort, an dem ich abgemalt sein will.“
Es tut mir leid, dir das zu sagen“, meinte er ruhig, wie immer, „aber deine Mutter ist vor ein paar Minuten ums Leben gekommen.“
Was?“ Ich traute meinen Ohren nicht. „Wie kommst du denn auf so was? Du lügst doch, ich glaub dir kein Wort. Ich gehe jetzt nach Hause.“
Ich habs nie jemandem gesagt, aber ich sehe Sachen, die andere nicht sehen können.“ „Ja, Gespenster deiner blühenden Phantasie“, rief ich aufgebracht. Wie konnte er mir so einen Stuss erzählen? Mit 15 mag man ja vieles glauben, was Freunde so von sich geben, aber das hier ging entschieden zu weit.
Frag Jonas. Als sein Hund abgehauen war, konnte ich ihm auch sagen, wo er den suchen soll.“
Wie gut, dass Jonas jetzt grade nicht da ist, um ihn fragen zu können.“ Meine Stimme troff vor Empörung und Zorn. „Ich gehe jetzt zurück und suche meine Mutter. Und du solltest auch schauen, dass du zu deinen Eltern gehst.“ Sowas egoistisches, wie der Typ, sollte mir gestohlen bleiben. Keine Ahnung, was mich an dem jemals angemacht hatte. Gut, dass wir nicht zusammen waren, denn spätestens jetzt wärs das ge - we - sen. Er konnte ja ganz süß sein, aber hier ging es um meine Mutter! Ich drehte mich um und ging. „Warte“, er fasste mich am Arm, „es hat keinen Sinn. Wenn du jetzt zurück gehst, wirst du verletzt werden. Und deine Mutter wirst du daheim nicht finden. So glaub mir doch. Ich mache keine Witze über sowas ernstes. Ich weiß, dass es schwer ist, mir gerade jetzt zu glauben, aber was hätte ich denn davon, dir etwas vorzumachen?“
Und was sollen wir deiner Meinung nach tun? Willst du im Ernst deine Eltern im Unklaren lassen über dein Leben oder Sterben? Und nein, meine Mom ist nicht tot. Entweder, du erzählst mir Mist oder du irrst dich einfach.“
Die Situation war völlig irreal. Hier, wo wir standen und uns stritten, war alles normal und nichts sah anders aus, als gestern noch. Und doch waren wir vor Schüssen und Explosionen weggelaufen – hier, mitten in Köln. „Was ist da eigentlich los?“, fragte ich. Ich verstand das alles nicht. Bürgerkriege kamen in osteuropäischen oder arabischen Ländern oder Berlin vor, aber hier? Gestern war im Fernsehen von Kämpfen in Berlin die Rede gewesen, aber ich hatte nicht so genau hingehört, weil so richtig interessiert hatte es mich nicht. Selina hatte mir gerade von ihrem neuen Freund getextet und wir unterhielten uns darüber, wie sie mit Jens Schluss machen solle, ohne ihn zu verletzen. „Ich hab Mom gestern Abend zuletzt gesehen, als sie nach der Tagesschau an ihren Rechner ging, um sich in ihrer Frauengruppe Berlin zu unterhalten. Morgens ist sie immer schon aus dem Haus, bevor ich aufstehe. Jetzt wünschte ich, ich wäre heute früher aufgestanden“
Plötzlich erklang wieder eine Explosion, aber diesmal aus einer ganz anderen Richtung. „Das muß in Zollstock oder Sülz sein.“ Sein Gesicht drückte Bestürzung aus. „Achwas, das hast du aber nicht magisch gesehen“, stichelte ich wütend. „Nein“, sagte er ruhig, „ich kann Sachen meistens nicht vorhersehen. Und ich kenne da in der Gegend niemanden. Ich sehe, was Menschen oder Tieren, die ich kenne, jetzt gerade passiert. Oder passiert ist. Dazu muss ich irgendwas in der Hand halten, das der Person gehört und dann kommen die Bilder.“
Und was hast du von meiner Mutter in der Hand gehalten?“ Ich verzog spöttisch das Gesicht.
Ihr Kind“, er grinste traurig. „Als wir Hand in Hand liefen, habe ich flüchtige Bilder gesehen. Das funktioniert nicht so gut, als hätte ich ihre Haarbürste gehabt, aber es hat gereicht.“
Was genau hast du gesehen? Und hier nimm meine Hand und guck nochmal“, ich fuchtelte mit meiner Rechten vor seinem Bauch herum. „Das ist schwierig, ich kann es nicht erzwingen. Es kommt oder nicht. Eben, als ich deine Mutter sah, ist es einfach so gekommen.“
Grrrch!“ Ich drehte mich von ihm weg. Es war zum Haare ausraufen. „Ich muss sie suchen und wissen, was ihr passiert ist. Und noch was. Wenn du nicht in die Zukunft schauen kannst, woher weißt du dann, dass ich verletzt werde, wenn ich jetzt zurück gehe?“ „Das ist schwer zu erklären“, sein gesamtes Gesicht flammte puterrot, bis hinter den Ohren. Ich hätte mich gerne daran festgebissen, bis er den Mist aufgegeben hätte, aber ich musste einfach nach Hause. Als ich mich umdrehte, sah ich mehrere Hubschrauber über dem Gebiet um die Severinsstraße kreisen. „Die sind von der Polizei“, sagte Joshi, aber es wird sicher auch nicht allzu lange dauern, bis hier das erste Militär aufkreuzt. Nachdem, was sie gestern aus Berlin gemeldet haben, bin ich sicher, dass die Olivgrünen schon mobil gemacht sind.“ „Was ist denn da in Berlin genau passiert? Ich hab das gar nicht richtig mitbekommen“
Eigentlich dasselbe, wie hier. Eine der Demos vor dem Bundestag wurde beschossen und dann gab es mehrere Explosionen. Bis ich ins Bett bin, hatten Bundeswehreinheiten das Gebiet um den Bundestag schon eingekesselt und einige der Angreifer kalt gestellt. Ich wünschte, ich hätte heute Morgen vor der Schule die Nachrichten angemacht. Max und Leon haben in der Schule, genau wie ich, gedacht, dass einer der anderen schon Bescheid wisse. Also hat heute Morgen keiner von uns Nachrichten angemacht und deshalb wusste keiner von uns was genaues.“
Ich war schon losgegangen, während er noch redete und er war einfach mitgekommen. Unterwegs nahm er, wie selbstverständlich meine Hand in seine. „Sagst du mir jetzt, was du über meine Mom gesehen hast?“ Er seufzte. „Ich sah ein paar kurze Bilder. Sie ist mit dem Kopf auf ihr Lenkrad aufgeprallt und da war viel Blut. Hat sie keinen Airbag? Ich meine, sie muss sehr leichtsinnig sein, wenn sie ein Auto ohne Airbag fährt“
Doch, sie fährt zwar nur einen alten Astra, aber einen Airbag hat das Teil auf alle Fälle.“
Jetzt grade sehe ich gar nichts mehr. Das muss nichts heißen. Ich sagte dir ja, dass es einfach kommt oder auch nicht. Ich kann nichts erzwingen.“
Hast du denn sonst nichts gesehen? Und wie kommst du von den paar Bildern auf das schmale Brett, sie sei tot?“
Weil sie wirklich heftig aufgeschlagen ist. Sie muss in voller Fahrt auf irgend etwas aufgefahren sein. Und die Windschutzscheibe fiel wie ein riesiges Puzzle auf ihren Kopf. Da war eine Menge Blut. Dann war nix mehr. Keine weiteren Bilder.“
Das kann aber auch sein, dass sie nur verletzt und in einem Krankenhaus ist, oder?“
Nja, eher unwahrscheinlich, aber ich hoffe mit dir, dass du recht hast.“
Ich schwieg. Ich schwankte innerlich zwischen glauben und nicht glauben. Er war so überzeugend, wenn er auf diese ernste, ruhige Art Sachen erklärte. Verstohlen blickte ich ihn von der Seite an, sah, wie er die Hubschrauber beobachtete und bemerkte, dass ich sehr froh war, dass er hier an meiner Seite war. Mit mir zurück ging. Hätte ich wirklich den Mumm gehabt, alleine zu gehen?
Der Strom von Autos war inzwischen verebbt. „Sie haben das Gebiet wohl schon dicht gemacht“, sagte er gerade. Sofort krallte sich eine Hand aus Eis um mein Gedärm. „Meinst du, wir können nach Hause kommen?“
Doch, können wir bestimmt. Wenn wir nicht auf dem direkten Weg hingelangen, kenne ich einige Schleichwege“ Ich hätte ihn küssen können, auch, wenn sich das vor 15 Minuten ganz anders angefühlt hatte. Auch ich beobachtete jetzt die Hubschrauber. 4 Stück kreisten am Himmel, wie Geier über der sterbenden Beute. Und gerade, als ich ihnen in der Phantasie Federn anklebte, wurde einer von ihnen von etwas getroffen, drehte sich qualmend um sich selbst, ging dann kreiselnd runter und verschwand aus meinem Blickfeld hinter den Häusern.
Joshi stoppte und sah mich erschrocken an. „Siri, bist du dir wirklich sicher, dass du da hin zurückkehren willst? Solltest du dich nicht lieber in Sicherheit bringen? Selbst, wenn ich dich angelogen hätte und deine Mom zu Hause wäre, könnte sie nicht wollen, dass du dich unnötig in Gefahr bringst. Wer weiß, was da hinten auf uns wartet.“ „Hast du Angst?“ Ich hatte diese Frage nicht spöttisch stellen wollen, aber irgendwie klang sie doch so. „Ein bisschen Angst habe ich schon. Nicht so sehr um mich, sondern um dich. Aber wenn du unbedingt willst, bringe ich uns da rein.“ Damit drehte er sich entschlossen um und zog mich weiter. Ist es Jungs eigentlich ins Blut gelegt, tapfer zu sein und auf ihr Mädchen aufzupassen? Ihr Mädchen? Hmmm, war ich sein Mädchen? War er deshalb so rot geworden? Und ich? War ich sein Mädchen? Ich hatte, abgesehen von einer kurzen Küsserei mit einem Jungen im Urlaub am Gardasee letztes Jahr, noch keinen Freund gehabt. Komische Vorstellung, Joshi zu küssen. Irgendwie reizvoll, aber auf der anderen Seite war das eben Joshi. Der Junge, den ich seit der 5. Klasse kannte und der einfach immer da war. Ich wollte lieber nicht weiter darüber nachdenken.
Langsam kam der Bayenturm wieder in Sicht und außer ein paar vereinzelter Schüsse hörten wir nichts. Die Hubschrauber hatten wohl abgedreht. Ich fragte mich, was aus der Besatzung des getroffenen geworden war. „Können die das überlebt haben?“ „Die Chancen stehen nicht schlecht“, er zog einen nachdenklichen Flunsch, „so schnell sind die nicht nach unten. Kommt darauf an, wie der Vogel aufgeschlagen ist und ob der Purzelbäume geschlagen hat. Explodiert ist er jedenfalls nicht.“
Sei mal still“, ich legte den Kopf schräg, „hörst du das?“ Lauschend verharrte er. „Ja, da werden sie jetzt mit Polizeiwagen durchs Viertel fahren und Durchsagen a la `Bleiben Sie in den Wohnungen, es ist alles unter Kontrolle´ oder so verlauten lassen.“
Ich hoffe wirklich, sie bekommen das schnell unter Kontrolle.“ Über uns sah ich Düsenjets ihre Bahnen ziehen. „Aufklärungs Tornados.“ Joshi folgte ihnen mit den Augen.
Gerade, als wir an der Ampel standen, bog ein Konvoi der Armee in die Dreikönigenstraße ein und ein zweiter fuhr weiter Richtung Rodenkirchener Brücke. „Was sind denn das für Panzer? Ich hab mir die Dinger immer größer vorgestellt.“
Schützenpanzer und jeweils als letzter ein Rotkreuz Panzer.“
Haben Panzer nicht Ketten?“ Er lachte:“ Die fürs schwere Gelände schon, aber die würden den Straßenbelag zerstören und wären außerdem viel zu langsam. Und auch zu breit für die engen Straßen hier.“
Schnell rannten wir in die Stollwerksiedlung zu mir nach Hause und gottlob hatte ich wenigstens den Schlüssel nicht verloren. Mom war nicht da. Mir kroch Angst in die Gedärme. Was, wenn er die Wahrheit gesagt hatte? Ich öffnete den Kühlschrank und entnahm ihm eine Apfelschorle, weil ich fast am verdursten war und nach einer Sekunde ging das Licht in seinem Inneren aus. Ich probierte verdutzt den Lichtschalter, aber da war auch keine Reaktion. Joshi nahm sich eine Cola aus dem Kühlschrank und sah aus dem Fenster: „Die Ampeln sind auch tot. Das sieht aus, als wenn das wirklich etwas größeres wird. Frage mich, ob die das in Berlin schon in den Griff bekommen haben oder nicht.“
Warte mal, Moms ulkiges Badezimmerradio. Das ist so eins mit Batterien. Es ist so ein kleines rundes Plastikgerät mit einer Kordel als Aufhänger, das um das Bedienfeld herum einen Rettungsring aufgedruckt hat. Thomas, Moms Exfreund hatte das mal von einer Geschäftsreise aus Ostfriesland mitgebracht. Ich weiß gar nicht mehr, der wievielte Ex er war. Der 3. oder 4. ungefähr. Ich hab irgendwann aufgehört, die nachzuhalten. Länger als ein paar Monate hält kaum eine Beziehung, die sie führt. Schon mein Vater ist abgehauen, als sie noch schwanger war, mit mir. Ich scheine die einzige Konstante in ihrem Leben zu sein. Ich und ihre Arbeit als Betriebsrätin und Frauenbeauftragte bei Ford.“ Ich kicherte. „So eines müsste doch jetzt noch gehen, oder?“
Klar“, er grinste, „wenn die in erreichbarer Entfernung noch senden, dann saugt es das auch ab.“ Ich ging ins Bad und riss das alberne Ding von der Wand.
Hier ist es.“ Ich schaltete es ein. - … Stuttgart hat die Bundeswehr offenbar die Lage im Griff. Es liegen keine Meldungen über weitere Anschläge vor. Die Bundeskanzlerin hat sich zu den Vorfällen noch nicht geäußert. Und nun zum Wetter... Ich schaltete das Gerät aus. „Stuttgart?“
Warten wir noch 20 Minuten, dann kommen wieder Nachrichten. Stuttgart also auch. Frage mich, wo noch. Essen wir erst mal etwas, dann hören wir die 6 Uhr Nachrichten und dann sehen wir weiter“
Puh, ich guck mal, was da ist. Mom kauft eigentlich fast jeden Tag frisch ein. Da ist nicht viel im Haus, bis sie kommt.“ Ich öffnete einige Schränke in der Küche:“ Ah ja, hier ist noch ein halbes Toastbrot und Marmelade. Komm hier rein, ich mach uns was. Eier könnten wir auch noch haben.“ Ich sah im Kühlschrank nach. „Ja, noch 4 Eier und etwas Leberwurst. Ach ja, kochen können wir die Eier ja nicht, ohne Strom.“
Hast du Kerzen? Es wird bald dunkel und ohne Strom siehts düster aus“ „Ja“, rief ich, „im Flurschrank. Geh mal nachsehen. Ich rufe jetzt erstmal die Polizei an und frage, wie ich was ich über meine Mom herausfinden kann.“ Ich ging zum Telefon und blieb wie angewurzelt stehen. Ohne Strom funktionierte das Ding ja auch nicht. „So ein Mist! Kein Handy, kein Telefon. Wie soll ich denn jetzt erfahren, was mit ihr ist? Was ist bei euch zuhause? Habt ihr ein Kabeltelefon?“
Nein, auch ein schnurloses, aber meine Mutter hat ein Handy. Falls die zuhause ist, können wir nachher von da aus anrufen, falls wir dahin kommen. Vergiss nicht, um in die Jakobstraße zu kommen, müssen wir irgendwie über die Severinsstraße gelangen. Und erstens ist es im Dunkeln noch gefährlicher und zweitens wissen wir nicht einmal genau, was da draußen los ist.“ Er nahm 2 Untertassen aus dem Schrank und fragte nach Streichhölzern. Ich gab ihm die Schachtel. Zuerst klebte er die beiden Kerzen auf den Tellerchen fest und dann entzündete er sie. Nun sah es nicht mehr halb so trostlos in der Küche aus. Ich blickte aus dem Fenster. Noch schien niemand anderer Kerzen entzündet zu haben. Oder konnte man das nur noch nicht sehen, weil es noch nicht ganz dunkel war? Hier in der Siedlung sah es ganz normal und friedlich aus. Außer der Tatsache, dass alles wie ausgestorben war.
Hinter mir klickte der Schalter des Radios: Radio Südfunk mit den Nachrichten um 18:00Uhr.
In Berlin scheint die Lage unter Kontrolle und die Terroristen gefangen oder erschossen worden zu sein. Unbestätigten Meldungen zufolge sind bei den Anschlägen und den anschließenden Kämpfen 850 Menschen getötet und mehrere Tausend verletzt worden. In Hamburg hat sich die Lage verschärft. Die Angreifer liefern sich erbitterte Kämpfe mit der Polizei und militärischen Einheiten. Aus dem Regierungsgebäude werde noch heftig geschossen, so ein Polizeisprecher. Das Gebiet um die Innenstadt ist abgeriegelt. In München scheint die Lage außer Kontrolle zu sein. Aus der Innenstadt werden heftige Kämpfe gemeldet. Strom und Wasser scheinen ausgefallen zu sein. Wie viele Menschen bislang ums Leben kamen, ist unklar. In Köln werden Kämpfe rund um das Rathaus, die Innenstadt und im Severinsviertel gemeldet. Mehrere Autobomben explodierten in verschiedenen Teilen der Stadt. Eine Explosion am Kölner Dom wurde jetzt bestätigt. Schäden an der Kathedrale werden jedoch verneint. Mehrere Stadtviertel melden Stromausfälle, ein Sprecher des Militärs sagte jedoch, er sei zuversichtlich, das die Lage in absehbarer Zeit zu beruhigen sei. In Dresden hat es mehrere Sprengstoffanschläge gegeben, doch mehr ist zur Zeit nicht bekannt. In Stuttgart hat die Bundeswehr die Lage offenbar im Griff. Es liegen keine Meldungen über weitere Anschläge vor. Die Bundeskanzlerin hat sich zu den Vorfällen noch nicht geäußert. Das Wetter.... Er schaltete das Radio aus. „Habt ihr Ersatzbatterien? Das Lichtchen sagt, dass die hier drin nicht mehr allzu lange halten.“ „Nein, ich glaube nicht. Ich weiß auch nicht, wo Mom die aufbewahrt“ „Dann lassen wir das Ding besser aus, bis wieder neue Nachrichten reinkommen.“ Ich sah ihn bittend an: „Meinst du, wir könnten bald abhauen? Ich brauche ein Telefon.“ Meine Stimme klang dünn und quengelig.
Ok, dann iss auf und dann gehen wir. Das Radio nehmen wir mit.“
Wenn das verloren oder kaputt geht, bringt meine Mom mich um“, sagte ich, obwohl mir eigentlich klar war, dass ich gerade Blödsinn redete.
Draußen angekommen, hörten wir wieder diesen Polizeisingsang: „Bitte bleiben Sie in ihren Wohnungen. Dort sind Sie in Sicherheit.“ „Wo lang?“ Hier draußen fühlte ich mich, wie eine Maus auf der offenen Wiese. „Wir schauen mal, was hinten rum auf dem Severinswall los ist. Wenns da nicht geht, versuchen wir zum Ubierring zu kommen und über den Chlodwigplatz weit oben hoch zu gelangen. Und dann versuchen wir das Gebiet um die Severinsstrasse zu umgehen. Wenn alles reißt, gehen wir oben hinterm Vorgebirgswall über die Gleise weiter.“
Auf dem Severinswall standen Truppen, also rannten wir zur Bayenstrasse und dann weiter zum Ubierring. Hier schien niemand zu sein. Wir hielten uns nahe bei den Häusern, bereit, bei der kleinsten Bewegung in einen der Hauseingänge zu schlüpfen. Ich hielt seine Hand so fest, als hinge mein Leben davon ab, sie nicht zu verlieren. Bis zum Chlodwigplatz kamen wir, dann boxte mich plötzlich etwas am Bein und ich strauchelte. Joshi riss mich in den nächstbesten Hauseingang. „Lass mal sehen.“ Blut lief an meiner Jeans herunter. Irgend etwas hatte mich am Oberschenkel verletzt. Es kam nicht sofort, sondern in Wellen. Ein brennender Schmerz lähmte mich schließlich beinahe. „Da hat jemand auf uns geschossen. Ich bring dich zurück nach Hause. Damit kommen wir keine 100 Meter mehr weiter. Und zu gefährlich ist es auch.“ Endlich begriff ich, dass er recht gehabt hatte, mit dem, was er heute Nachmittag zu mir gesagt hatte. „Hast du gewusst, dass ich am Bein verletzt werden würde?“ „Nein, ich sah nur Blut an dir.“ „Ich kann nicht laufen“, jammerte ich. Es tat so weh. „Bleiben wir einfach hier im Eingang.“
Notfalls trag ich dich.“
Nein, ich will einfach hier bleiben. Bitte!“
Das geht nicht, Siri. Wir müssen in ein Haus, sonst passiert uns am Ende noch schlimmeres.“ Das mobilisierte mich. Ich humpelte an seinem Arm den ganzen Weg zurück. Daheim angekommen zündete er erst die Kerzen an, dann zog er meine Jeans aus und untersuchte die Wunde. Es war ein kleines Loch vorne am Oberschenkel und auf der hinteren Seite meines Beines war ein Knubbel. „Die Kugel steckt im Bein. Ein Arzt könnte die sehr leicht rausschneiden, weil sie direkt hinter der Haut liegt. Wo habt ihr euren Verbandskasten?“ „Im Wohnzimmerschrank, untere rechte Schublade.“
Nachdem er mich verbunden hatte, schaute er auf die Uhr und fischte das Radio aus seiner Hosentasche. - … Dom wurde jetzt bestätigt. Schäden an der Kathedrale werden jedoch verneint. Mehrere Stadtviertel melden Stromausfälle, ein Sprecher des Militärs sagte jedoch, er sei zuversichtlich, das die Lage in absehbarer Zeit zu beruhigen sei. In Dresden hat es mehrere Sprengstoffanschläge gegeben, doch mehr ist zur Zeit nicht bekannt. In Stuttgart hat die Bundeswehr die Lage offenbar im Griff. Es liegen keine Meldungen über weitere Anschläge vor. Die Bundeskanzlerin hat sich zu den Vorfällen noch nicht geäußert. Das Wetter....
Hmmm, ist das nicht quasi wortgleich zu der Meldung von vor einer Stunde?“, fragte ich ihn nachdenklich. Mein Bein hatte zu pochen begonnen. Ich humpelte ins Wohnzimmer und legte mich auf die Couch. „Wo ist der Schuß überhaupt hergekommen?“
Aus irgendeinem Haus auf dem Chlodwigplatz. Ich frag mich, warum da noch keine Einheiten sind.“ Er kaute auf seiner Unterlippe herum. Ich fragte: „Ob die nicht wissen, dass da auch Angreifer sind?“
Das ist denen eigentlich wumpe.“ Er winkte ab. „ Die schließen einen Ring um das ganze Gebiet und dann säubern die das alles. Haus um Haus, wenns sein muss.“
Vielleicht haben die den Ring nicht weit genug nach hinten gezogen?“
Ich weiß es nicht, ich habe keinerlei Einheiten dort gesehen, weder Polizei, noch Militär. Vielleicht haben sie den Ring aber auch viel weiter gezogen und wir haben sie nur nicht bemerkt, weil wir mittendrin im Kampfgebiet herumlaufen, wie zwei lebensmüde Mikrohirne.“ Er rührte mit der Hand vor seiner Stirn herum.
Mein Bein tut so weh“, ich stöhnte vor Schmerz. „Ich denke, es würde besser, wenn die Kugel da raus wäre, weil sie natürlich ein Fremdkörper ist, der im Gewebe auch noch spannt. Bloß wo soll man jetzt einen Arzt herkriegen?“ Er rieb sich betrübt über die Stirn.
Kannst du das nicht da rausholen? Es tut so weh.“ Er schaute entsetzt: „Ich? Achwas. Mit nem Küchenmesser?“
Nein, meine Mom hat so ein kleines Teppichmesser zum Basteln. Das Teil ist richtig scharf.“ Seine Augen wurden so groß, wie Spiegeleier und er vollführte bei jedem Wort die passende Geste. „Ich meine, wir reden hier so laberlaber davon, dass ich dir die Haut aufschneiden soll mit einem Teppichmesser. Und dann piddel ich dir so mirnix dirnix eine Kugel aus dem Fleisch, ist ganz einfach, wie im Kino. It´s just a flesh wound – so etwa?“ Sein Auftritt war filmreif.
Mir lief ein Schauer den Rücken hinunter, aber der Schmerz in meinem Beim machte mich kirre. „Eine spitze Pinzette hat sie auch, bei ihrem Zeug zum Nägel modellieren.“
Sooo?“ Er dehnte das Wort wie Kaugummi. „Hast du mal über den Daumen gepeilt, wie viele Völker, achwas, Universen von Bakterien auf dem Werkzeug deiner Mutter wohnen? Ganz zu schweigen von denen auf meinen Händen?“
Im Gefrierfach hat sie noch eine halbe Flasche Wodka von ihrer Geburtstagsparty im März.“
Er stöhnte gequält auf. „Sei realistisch, Siri. Bis du zu einem echten Arzt kommst, der dir die Sache fachmännisch desinfizieren kann, bist du an Blutvergiftung gestorben.“
Ja“, sagte ich grinsend. „Aber dann sag mir doch, wie sauber die Hände von dem Typen waren, der seine Waffe mit der Patrone geladen hat, die da jetzt in meinem Bein steckt.“
Er sah mich nachdenklich an, sah auf mein Bein, dann wieder in meine Augen. „Das tut richtig weh.“ Er jammerte beinahe; jede Pore seiner Haut schwitzte seine Not aus.
Ich werde tapfer sein. Notfalls trinke ich den Rest von dem Wodka, wenn du alles desinfiziert hast“ Er ging in die Küche, kam zurück ins Wohnzimmer, als habe er noch etwas vergessen, ging wieder in die Küche und kam nach einer halben Minute zurück. „Ich kann das nicht.“ „Doch, du kannst“ Inzwischen hatte ich mich richtig für die Sache erwärmt. Beinahe reingesteigert. Beinahe? Ich wollte das Ding los werden. Lieber jetzt, als nachher. Er setzte sich in den Sessel, legte den Kopf in die Hände und stützte die Ellbogen auf seine Knie. Beinahe hörte ich sein Gehirn rattern. „Das Werkzeug muss abgekocht werden. Da reicht ein bisschen Wodka nicht. Aber ein Topfboden ist zu dick, das braucht zu lang auf 2 Kerzen. Eine Fischdose hast du nicht vielleicht irgendwo?“ „Nein“, ich überlegte fieberhaft. „Aber da auf der Fensterbank steht ein kleines Aluminiumwännchen mit Kakteentöpfen drin. Kannst du das vielleicht gebrauchen?“ Er ging das Ding holen und besah es skeptisch. Es sah aus, wie diese alten Zinkbadewannen, in denen die Urgroßeltern früher gebadet haben. Dann verschwand er damit in der Küche. Ich hörte ihn poltern und werkeln. „Was machst du da?“ „Ich schrubbe das Ding erstmal mit Essig und Scheuerzeug, weil es total verkalkt und verdreckt ist.“ Nach einer Weile kam er zurück und brachte 2 Kochtöpfe, das Gitter aus dem Backofen und das Wännchen mit. Die Töpfe platzierte er, etwa 15 cm auseinander, verkehrt herum auf dem Wohnzimmertisch und legte das Gitter darüber. „Was wird das?“, fragte ich mit einem Stirnrunzeln. „Ein Grill ist auch nur ein rundes Backofengitter über einer Flamme.“ Er grinste ein bisschen aufgeblasen. „Ok, wo ist das Werkzeug?“ „Alles in der rechten Tür hier im Wohnzimmerschrank.“ Er kramte in dem Fach und besah sich das Messer, klickte das erste Teilstück der Klinge ab, öffnete es und holte die Klinge heraus. Dann legte er sie in das Wännchen. Die Pinzetten besah er sich länger und suchte sich schließlich die mit der gebogenen Spitze aus, legte sie zu der Klinge und noch die sehr spitze, gerade hinterher. Den Rest steckte er wieder in den Becher zurück. „Wo habt ihr Essig?“ „Links über dem Herd, im Gewürzschrank. Ist aber Balsamico. Mom nimmt nur diesen.“ „Egal“, grinste er und ging in die Küche, „solange da nur Essig im Wort enthalten ist. Der brennt jede Bakterie ab, wenn der kocht.“ Er löste eine der Kerzen vom Tellerchen und klebte sie zu der anderen. Dann stellte er sie unter das Gitter und das Wännchen darauf. Der Essig roch leicht beim einschütten. Es dauerte keine 5 Minuten bis unsere Augen tränten. „Kannst du das jetzt ausmachen?“
Noch 2, 3 Minuten, dann sollte da drin alles tot sein.“
Hier draußen aber auch“, jammerte ich kläglich. Aber er blieb hart. Danach nahm er das Wännchen mit einem Küchenhandtuch und verschwand damit in der Küche. Ich hörte, wie er Wasser laufen lies. Er brachte sein Werkzeug in einem Handtuch und den Wodka mit, stellte die Kerzen wieder auseinander und räumte seinen Grill wieder ab. Gründlich desinfizierte er seine Hände mit dem Schnaps. „Ok, ich wär dann soweit. Wie sieht es mit dir aus“ Ich begann, zu schwitzen, drehte mich aber tapfer auf dem Bauch.“ „Ich auch.“
Der Schmerz war heftiger, als ich dachte. „Moment, Moment. Ich glaub, ich nehm die Variante mit dem Wodka.“ Er gab mir die Flasche und ich trank den Inhalt fast zur Hälfte aus, bevor mir die Augen überliefen und ich sie hustend absetzen musste. Nach etwa 3 Minuten verschwamm alles vor meinen Augen und ich legte mich wieder auf den Bauch. „Ogee, mach feddich“, lallte ich. Ich merkte, wie er da hinten herumfuhrwerkte. Es tat noch immer weh, aber es wurde mir von Schnitt zu Schnitt unwichtiger. Ich schlummerte ein.
Als ich erwachte, dröhnte mein Kopf und die Muskulatur war steif. Übel war mir und mir schoss der Gedanke durch meine wehe Birne, dass, wenn man das einen Kater nannte, der aber einen Rüssel haben müsse. Und dicke Stempelbeine, die da gerade auf meinem Kopf einen Steptanz aufführten. Ich drehte mich stöhnend auf den Rücken und versuchte, meine Gedanken zusammenzusuchen. Ach ja: Bein, Aua, Operation, Joshi. - „Joshi?“ Ich rief seinen Namen und sah mich um. Aber er war weg gegangen. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass ich etwa 10 Stunden geschlafen haben musste. Wo konnte er nur sein? Es war doch viel zu gefährlich da draußen. Das hatte er selbst gesagt. Ich humpelte ins Bad und hielt meinen Kopf unter kaltes Wasser. Dann trank ich ausgiebig davon und beschloss, nie wieder Alkohol anzurühren. Ich erinnerte mich wage daran, dass ich in der Nacht wach geworden war und ihn im Sessel hatte sitzen sehen, vornübergebeugt, mit den Ellbogen auf den Knien. Ich war aber zu müde gewesen, mich auch nur zu bewegen, ganz zu schweigen davon, ihn anzusprechen. Und war ich überhaupt wirklich wach gewesen oder war das ein Traum meiner Trunkenheit?
In der Küche aß ich gerade ein Marmeladentoast, als sich die Haustüre öffnete wieder schloss. „Siri? Bist du wach?“ „Ich bin hier. Wo warst du denn?“ In der Küche angekommen, sah er mich ernst und ruhig an. Doch er schien irgendwie zu strahlen. Die Luft schien um ihn herum auf eine seltsame Weise zu wabern, obwohl man nichts sehen konnte. „Was ist denn los mit dir“, fragte ich bang. Er sagte: „Ich hab die halbe Nacht im Sessel verbracht und versucht, mit dem Projektil etwas herauszufinden über den Schützen. Aber es kam nichts. Dann bin ich zum Chlodwigplatz und hab mich da in einem Hauseingang einquartiert, wo ich einen guten Blick auf die Häuser hatte. Dort hab ich es nochmal versucht und herausgefunden, aus welchem Zimmer das kam. Und ich weiß noch etwas. Vertraust du mir?“ Er sah mir ruhig und irgendwie überlegen in die Augen. Und es hatte etwas hypnotisches, wie er mit seinen weichen, braunen Rehaugen meinen Blick gefangen hielt. „Ja, öööhm, ich glaub schon. Was ist denn los?“ „Komm mit.“ Im Wohnzimmer setzte er sich auf die Couch, auf der noch die Decke lag, mit der er mich in der Nacht zugedeckt hatte. „Komm, setz dich neben mich.“
Ich habe schreckliche Kopfschmerzen“, jammerte ich kläglich. „Ich weiß, leg dich ganz gemütlich zurück.“ Als ich es mir so bequem, wie möglich gemacht hatte, strich er mehrmals ganz sanft über meine Stirn. Der Schmerz verschwand mit jedem Streich ein bisschen. Bis er ganz fort war. „Bleib so liegen und denk einfach an gar nichts, wenn du kannst.“ Dann nahm er meine Hand, bugsierte sich auch in eine angenehme Position und atmete ein paar Mal tief ein. Plötzlich sagte er in meinem Kopf ich solle die Augen öffnen und als ich das tat, zog er mich auf die Beine. Ich riss die Augen auf. Meine Wunde schmerzte nicht mehr und ich fühlte mich leicht und fröhlich. Er grinste. „Schau mal da.“ Er zeigte auf die Couch und da saßen wir beide nebeneinander und hielten uns an den Händen. „Wa...?“, keuchte ich erschrocken. „Keine Sorge. Komm mit, das wird ein Spaß“ Er zog ein konzentriertes Gesicht und schwupps, standen wir auf dem Chlodwigplatz. Ich sah mich perplex um und dann an mir herunter. „Oh Mann, ich hab nur Unterwäsche und ein Tshirt an.“ Völlig verwirrt zerrte ich daran, aber es wollte einfach nicht länger werden. „Ganz ruhig, niemand kann uns sehen. Komm weiter.“ Er sah ein Haus an und in einem Wimpernschlag standen wir inmitten eines Zimmers, in dem ein Mann in Uniform an einem Tisch saß und einen Stadtplan studierte. „Das ist der Klappspaten, der nix besseres zu tun hat, als auf kleine Mädchen zu schießen“, grinste er boshaft. „Wenn ich das richtig mitbekommen habe, befehligt der das Geschehen hier in Köln. Den werden wir jetzt mal ein wenig einseifen.“ Ich lachte nervös: „Kann der uns nicht wahrnehmen?“
Nicht, wenn ich nicht will.“ Er sah in eine Ecke des Raumes und ging darauf zu. Eine fette braune Hauswinkelspinne hockte dort. Mir stellten sich sofort alle verfügbaren Haare steil nach oben, aber er griff sich das Tier einfach und warf es in die Kaffeetasse des Mannes. Danach kitzelte er ihn im Nacken. Der Typ schauderte kurz und griff nach der Tasse. Gerade wollte er die Tasse einfach ansetzen und trinken, als er einen Blick hinein warf. Er sprang so heftig vom Stuhl auf, dass dieser nach hinten flog und die Tasse vorne an der Wand zersprang. Der Inhalt schuf ein interessantes Muster auf der Tapete und ich lachte herzhaft. Dann hob der Mann seinen Stuhl auf und Joshi kippte derweilen einen Schrank hinter ihm nach vorne, so dass der umfiel und mit einem lauten Knall auf dem Boden aufschlug. Mit einem Salto sprang der Mann über den Tisch, während er seine Pistole zückte und schoss. Alles gleichzeitig. Verwirrt blickte er sich um. Dann plumpste er auf seinen Hintern und zog die Knie an. Er senkte den Kopf und atmete ein paarmal tief ein. Joshi lachte und ich sah den Schalk in seinen Augen blitzen. „Woher kannst du das alles?“, fragte ich ihn. „Ich weiß es nicht. Es hat in diesem Hauseingang angefangen. Aber ohne dich konnte ich heute Nacht noch nicht viel bewegen. Nur ein bisschen klopfen und so. Aber damit hab ich ihn schon soweit nervös machen können, dass er bald genug hat“
Und woher wusstest du, dass du jetzt Schränke umwerfen konntest?“ Er überlegte kurz: „Ich fühl mich stärker mit dir zusammen und hab es einfach versucht.“ Mir fiel gerade etwas ein:“Funktionieren Poltergeister auf diese Weise?“
Das weiß ich nicht. Aber der Poltergeist JoshiSiri funktioniert offenbar genau .. so! Und gleich haben wir den Saftsack genau da, wo ich ihn haben will.“ Er umrundete den Mann, der mir jetzt beinahe ein bisschen leid tat und warf auch die Kommode an der gegenüberliegenden Wand um, die sich jetzt hinter dem Mann befand. Der sprang auf die Beine, drehte sich um sich selbst und verhedderte sich dabei mit den Füßen, so dass er der Länge nach hinschlug und mit dem Kinn hart auf den Boden prallte. Im selben Moment sprang er erneut auf und flüchtete aus der Wohnung und aus dem Haus. Joshi sah aus dem Fenster. „Der rennt in Richtung Severinswall. Da werden ihn die Olivgrünen erwarten, die da stehen.“ Dann hörten wir auch schon Schüsse aus der Richtung, in die der Mann gerannt war. Joshi hob eine Faust und zog sie ruckartig wieder ein Stück zurück. „Strike“, rief er grinsend. Dann kam er zu mir, nahm meine Hand wieder fest in seine und schaute konzentriert. Und sofort waren wir wieder in unserem Wohnzimmer. Ich sah mich da sitzen, neben ihm auf der Couch. Unsere Köpfe lagen gemütlich auf der Lehne, die Augen geschlossen, als würden wir schlafen. „Wie kommen wir denn jetzt wieder zurück in uns selbst?“ „Ganz einfach.“ Er führte mich an die Couch und drehte mich um, so dass ich mit dem Rücken zu meinem Körper stand. „Jetzt setz dich einfach hin und lass dich dann zurückfallen. Ich hab vorher nochwas zu erledigen. Lass mich einfach da sitzen, bis ich wach werde, ok?!“ „Ok.“ Ich setzte mich und ließ mich zurückfallen. Dann öffnete ich die Augen und war wieder ich. Ich meine, ich war wieder in meinem Körper. Mein Bein schmerzte wieder und ich fühlte mich so erschöpft, als hätte ich die ganze Nacht getanzt. Etwa eine Stunde später kam er wieder zu sich und erzählte mir freudestrahlend, dass er dich gefunden hat. Herkommen konnten wir erst jetzt, weil die Armee noch 2 Tage gebraucht hat, um für Ruhe zu sorgen. Und dann haben wir erst herumfragen müssen, bis wir jemanden fanden, der uns hierher fährt. Du weißt ja, dass Joshis Eltern kein Auto haben. Frau Müller von der Dritten oben, der ich in ihrer Schwangerschaft ein paarmal die Taschen hoch getragen hab, hat uns hergefahren, sobald es eben ging. Sie wartet unten. Ich weiß, dass es schwer ist, mir diese Sache zu glauben, aber du weißt doch, dass ich dich nie anlüge. Sie ist so wahr, wie ich hier stehe. Die Ärzte sagen übrigens, dass du noch eine Weile bleiben mußt, weil du eine schwere Gehirnerschütterung und viele Knochenbrüche hast. Hoffentlich fahren die Straßenbahnen wieder, wenn du entlassen wirst, denn zu Fuß wär das ja dann doch zu weit nach Hause. Ich hab übrigens erst gestern wieder etwas einkaufen können. In Zukunft müssen wir echt immer ein paar Konserven im Haus haben. Ach ja, Joshi ist jetzt mein Freund. Ich hoffe, du magst ihn. Ich liebe dich, Mom. Ich hoffe, du bist bald wieder daheim.

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