Das Wäldchen
Im
Inneren des Wäldchens lauerte etwas. Davon war sie seit Jahren
überzeugt. Niemals würde sie auch nur einen Fuß in dieses Wäldchen
setzen. Dabei wirkte es gar nicht bedrohlich. Es war nicht sehr groß
und abgesehen vom dichten undurchschaubaren Unterholz hätte es ein
Wäldchen, wie jedes andere sein können. Aber sie verspürte
Unbehagen, wenn sie auch nur daran dachte und regelrecht Angst, wenn
sie hinsah. Es lag in geringer Entfernung zur Südwiese, die ihr Mann
Peder und ihr Sohn Wanjo 2 Mal im Jahr mähten. Tiere ließen sie
dort keine mehr weiden, nachdem vor 10 Jahren ihr einziger Ackergaul
von dort aus verschwunden war. Er war nie wieder aufgetaucht. Damals
hatten sie nicht einmal vermutet, dass er gestohlen worden sein
könnte, denn es war ja nicht das erste Mal gewesen, dass Tiere des
Dorfes verschwanden. Es hatte sie beinahe ihre Existenz gekostet,
denn ohne den Gaul war die steinige Scholle nicht zu pflügen. Nur
der Umstand, dass der Onkel starb und Peder sein einziger lebender
Verwandter gewesen war, brachte ihnen eine kleine Erbschaft, durch
die sie den Gaul durch einen neuen hatten ersetzen können.
Es
waren auch schon 2 Kinder verschwunden. Damals, vor 20 Jahren hatte
es ein 11 jähriges Mädchen erwischt, das ins Nachbardorf zu einer
Verwandten geschickt worden war und nie mehr gesehen wurde. Obwohl
alle Männer des Dorfes beinahe eine Woche lang die Umgebung
durchkämmten, war die Suche erfolglos geblieben. Danach hatten sie
sich wieder ihren Höfen zugewandt, denn es war ja Erntezeit gewesen.
Niemand konnte seine Ernte zu lange vernachlässigen, denn wenn die
Frucht zu lange im Regen stand, verdarb ein Teil und das würde einen
Hungerwinter bedeuten. Zumal das Kind eines von 8 Kindern der Familie
und ein Mädchen
gewesen war. Mädchen heirateten meist mit 14 Jahren und zogen auf
den Hof ihres Mannes, der oft in einem anderen Dorf lag.
Für
ihre Eltern wäre der Verlust eines ihrer Söhne also sehr viel
dramatischer gewesen. Der Älteste übernahm den Hof und jüngere
Söhne blieben entweder als Knechte oder gingen in eine Lehre beim
Schmied, beim Zimmerer oder einem Kaufmann. In jedem Fall konnten sie
dem elterlichen Hof in Notzeiten beistehen, während Mädchen mit
einer Heirat völlig in die neue Familie eingingen und die alte
ablegten.
Das
2. Kind war ein 10 jähriger Junge gewesen, der vor 8 Jahren auf dem
Weg zur Klosterschule verschwand. Er war der jüngere Sohn des
Kaufmannes Jensen gewesen, der es sich als einziger im Dorf hatte
leisten können, seinen Jungen zur Schule zu schicken. Er litt
schrecklich unter dem Verlust. Denn dieser Junge hätte ihn einst
beerben sollen, weil der ältere Sohn blöd geboren worden war.
Ihrer
Meinung nach hätte es besser den anderen getroffen. Das wäre kein
großer Verlust gewesen. Soweit sie wusste, dachte das jeder im Dorf.
Kirme Jensen war danach so schnell gealtert, dass sie manchmal
dachte, sein Lebenslicht stehe in einem Sturm. Im vorigen Jahr war er
dann auch gestorben. Merta, seine Frau und der blöde Sohn lebten
seither von gesammelten und verkauften Kräutern und den kümmerlichen
Almosen, die sie im Dorf erbetteln konnten.
Als
vor 6 Jahren die 4 Schafe der Mandels aus ihrer aufgebrochenen Hürde
verschwanden, an der kurz vorher die alte Müllersche
vorbeigeschlurft war, kam im Dorf der Verdacht auf, dass diese einen
bösen Fluch auf die Schafe gesprochen hatte. War die nicht auch beim
Jensen gewesen, kurz bevor der Junge verschwunden war? Und hatte die
Ells Witter nicht genau gesehen, dass sich die Müllersche genau auf
Höhe der Hürde die Stirn gerieben hatte? In der Schankscheune
berieten sich die Männer. Während die eine Hälfte dafür
plädierte, den Abt Konwald aufzusuchen, mahnten die anderen, dass
man nichts zu voreilig entscheiden solle. Denn man wisse ja, was eine
Untersuchung durch den Abt bedeute.
Allerdings
starb die Müllersche 3 Wochen nach dem Vorfall und damit kehrte erst
einmal wieder Ruhe im Dorf ein. Sie selbst hatte nie daran geglaubt,
dass die Müllersche eine Hexe war, sie hatte immer das
Wäldchen im Verdacht – oder eben das, was in dem Wäldchen
lauerte. Schon oft hatte sie auf dem Weg ins Nachbardorf das Wäldchen
passieren müssen und jedes Mal hatte sie gehofft, dass es irgendwann
einmal gerodet würde, denn den Weg darum herum zu nehmen dauerte
fast eine halbe Stunde länger, als wenn man direkt dort durch
gegangen wäre. Obwohl niemand darüber sprach, schienen alle
Nachbarn das gleiche Unbehagen zu empfinden, denn niemand, den sie
kannte, war je auf den Gedanken gekommen, einen Weg durch das
Wäldchen zu bahnen. Aber genauso hatte nie ein Mann dort auch nur
einen Baum geschlagen, um Brennholz daraus zu machen. Dabei hätte es
jeder gedurft, denn der Grund gehörte niemandem. Nicht einmal das
Kloster erhob Anspruch darauf. Das wiederum fand sie äußerst
seltsam, denn die Kirche war ein gefräßiges Ungeheuer, das alles
verschlang, dessen es habhaft werden konnte. Als sie Peder danach
fragte, murmelte er nur, dass man nicht alle Mysterien ergründen
müsse und dass ein neugieriges Weib so liebreizend sei, wie eine
Fistel am Schinken. Also beließ sie es dabei und sprach nie wieder
darüber. Nur ihre Gedanken, die konnte ihr niemand verbieten.
Heute
Morgen sah sie einen Hund hinter einem Kaninchen herjagen,
schnurgerade dem Wäldchen zu, gerade als sie sich ins Nachbardorf
aufmachen wollte, um ein paar Wollknäuel zu verkaufen, die sie aus
der Schafwolle ihrer 2 Schafe gesponnen hatte. Peder hatte sie in der
Woche zuvor geschoren und nachdem sie die Wolle gereinigt und
versorgt hatte, hatte sie Abend für Abend gesponnen, bis sie jetzt
einen Korb voll auf den Markt bringen konnte. Wie oft hatte sie sich
schon gewünscht, der Markt sei in ihrem Dorf, dann hätte sie es
nicht immer so weit gehabt, aber Abt Konwald hatte ihrem Dorf keine
Konzession gegeben, da das Nachbardorf mehr dafür hatte zahlen
können. Ein Markt bedeutete für jedes Dorf natürlich Einnahmen und
Ansehen, denn alle Dörfer im Umkreis mussten ihre Waren in dem Dorf
anbieten, das den Markt hatte. Manche Bauern mussten dazu so weit
laufen, dass sie ihre Waren lieber den Kaufmännern mitgaben und
dafür weniger Geld erhielten. Aber besser das, als die Arbeit auf
dem Hof liegen zu lassen.
Sie
hatte natürlich eigentlich Glück, denn so weit war das Nachbardorf
nicht entfernt, dass sie ihre Wolle oder die Kräuter, die sie ab und
an verkaufte an einen Kaufmann hätte verscherbeln müssen. Ja, sie
waren arm, aber nicht so arm, dass sie … Sie brach mitten in ihrem
Gedanken ab, als das Kaninchen und der Hund in die Büsche des
Wäldchens sprangen. Ein Schaudern überlief sie, denn der Hund war
so gut wie tot. War das nicht der Hofhund der Hilgens? Hatte der
nicht diesen markanten Flecken auf der Stirn gehabt? Der war doch
eigentlich mit einem Seil an seiner Hütte festgebunden, da er früher
schon öfter ausgebüchst war. Immer war er zurückgekommen, aber
einmal hatte er eines der Hühnerküken vom Nollhof im Maul und den
schimpfenden Nollbauern hinter sich gehabt. Damit war sein freier
Auslauf gestrichen. Und er war ein wahrhaft glücklicher Hund, weil
er immerhin noch lebte. Wäre es nach Edning Noll gegangen, hätte
man ihm wegen des Kükens das Fell über die Ohren gezogen.
Damals
hatte er Glück gehabt, jetzt aber war er wohl selber Beute geworden.
Tief
in Gedanken zog sie ihres Weges und war froh, als sie später ihre
Wolle auf dem Markt zu einem akzeptablen Preis loswerden konnte. Wie
gern hätte sie für sich selbst daraus eine warme Weste gemacht. Die
Winter waren kalt und ihre alte Weste hatte mehr Flicken als sie
zählen konnte. Seufzend machte sie sich auf den Heimweg.
Unterwegs
dachte sie an den Hund und fragte sich, ob sie zu Erne Hilgen am
anderen Ende des Dorfes vorbeischauen sollte, um zu sehen, ob er
wieder aufgetaucht war, aber als sie an ihrem Haus angekommen war,
war sie zu müde, um noch weiter zu laufen. Außerdem war es doch
später geworden, als sie gedacht hatte. Die Sonne stand schon tief
und als sie an die Arbeit dachte, die sie heute noch erledigen
musste, sprach sie ein kurzes Gebet, in dem sie Gott um Kraft bat und
betrat den Stall.
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Sie
wurde durch laute Rufe geweckt. Erschrocken stand sie von ihrem Lager
auf und sah, dass Peder und Wanjo schon zur Tür heraus waren.
Schnell warf sie sich ihr Kleid und die Haube über und rannte
hinaus. Sie musste zuerst am Riedhof, dann am Hof der Mengens und
dann am Nollhof vorbei um den Dorfplatz zu erreichen, der von Fackeln
hell erleuchtet war. Alle redeten durcheinander und alles, was sie
verstand, war, dass Kinder in der Nacht gestohlen worden seien und
dass die Männer jetzt suchen gingen. Und wenn sie den Übeltäter
erwischten, - in Scheiben schneiden würden sie den Dreckskerl, in
Fetzen reißen, den Teufelsbuhlen, auf dem offenen Feuer würden sie
den Mistsack rösten. Auf die Frage, wessen Kinder denn verschwunden
seien, erfuhr sie, dass es die 3 Hilgensjungen waren, die wohl
gestern noch mit den Eltern zusammen schlafen gegangen seien, aber
nicht mehr auf ihren Lagern gewesen waren, als ihre Mutter in der
Nacht austreten musste. Erschrocken dachte sie an den Hund und suchte
nach Erne, um ihr ihr Mitleid auszudrücken und nebenbei zu erfahren,
ob die Jungen vielleicht nach dem Hund gesucht haben könnten. Als
sie die Hilgersche fand, war diese jedoch zu aufgelöst, um etwas
gescheiteres als „Gottseibeiuns“ zu brabbeln. Also schaute sie
den Männern beim Aufbruch zu und ging dann zum Hof der Hilgens, um
zu sehen, ob der Hund vielleicht dort aufgetaucht sei, doch das Seil
lag verwaist vor seiner Hütte.
Tief
in Sorge ging sie nun zurück zu ihrem Haus und begann ihr Tagwerk.
Sie ahnte es nicht, - sie wusste es. Dass die einzigen Kinder der
Hilgens ihren Hund gesucht hatten, den sie von Herzen gern hatten und
dass sie am Abend nicht hatten weitersuchen dürfen, sondern mit den
Eltern schlafen gehen mussten. Dass sie heimlich weitergesucht
hatten, nachdem ihre Eltern eingeschlafen waren. Dass sie.... nein,
wie sehr hoffte sie, dass sie sich irrte. Erne, die fast so etwas wie
eine Freundin für sie war, hatte ihren Michel schon mit 12 Jahren
heiraten müssen, weil ihre Eltern zu arm gewesen waren das unnütze
Kind noch länger durchzufüttern. Michel war damals schon 15
gewesen, mit seinem groben Vierkantgesicht nicht sehr ansehnlich und
daher kein „Wahl - Ehemann“ irgend eines Mädchens. Auch Erne
hätte lieber einen anderen gehabt, aber die Hilgens brauchten für
ihren Ältesten eine Frau und Ernes Vater war froh, sie los zu sein
und so heirateten die beiden.
Gleich
3 Jungen in 3 Jahren bekam sie. Kaum war der eine raus, war der
nächste im Bauch. Doch dann hatte sie eine Fehlgeburt, an der sie
beinahe starb. Die Kräuterin hatte ihnen beiden ernstlich zugeredet,
es jetzt mit dem Beischlafen sein zu lassen, denn wenn die Erne
stürbe, wer würde dann die Bälger aufziehen und die Arbeit
übernehmen, die die Frauen ja reichlich hatten? So war es also bei
den 3 Jungen geblieben und nun waren die gestohlen. Oder vielleicht
doch bei der Suche nach ihrem Hund ins Wäldchen gelaufen?
Gedankenschwer
erwartete sie ihren Peder und Wanjo zurück, um zu erfahren, ob die
Jungen gefunden seien, doch als die beiden eintrafen las sie schon an
ihren Blicken, dass sie gar nicht fragen brauchte. Während des
einfachen Abendessens wollte sie dennoch wissen, wie man darauf käme,
dass sie gestohlen seien oder ob sie nicht auch ausgerissen sein
könnten, um den Hund zu finden, doch Peder blieb einsilbig und vage.
Danach verschwanden er und Wanjo und sie vermutete, dass sie in der
Schankscheune mit den anderen Männern zusammentrafen, um sich mit
ihnen zu beraten. Zu gerne wäre sie lauschen gegangen, aber sie
wusste, dass ihr Mann es nicht geschätzt hätte, wenn er es
herausgefunden hätte. So legte sie sich schlafen und wusste doch,
dass sie kein Auge zubekommen könnte.
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Sie
musste wohl doch irgendwann eingeschlafen sein, denn das nächste,
was sie hörte, war das Krähen ihres Hahns. Peder lag nicht neben
ihr und sie fragte sich, ob er überhaupt nach Hause gekommen war.
Müde
stand sie auf, nahm ein paar getrocknete Pfefferminzblätter und
kochte genug Wasser, um daraus Tee für die beiden hoffentlich bald
Heimkommenden zu machen. Gerne hätte sie ihn gesüßt, doch Honig
hatte schon seit längerem keinen mehr. Auf dem Markt war er zu teuer
und Peder hatte bis in den Herbst hinein keine Zeit, um
Wildbienenstöcke zu suchen. Danach ging sie an den Brunnen, um
Waschwasser zu holen und es in den Waschzuber vor der Türe zu
gießen. Heute war Waschtag, und sie war froh, dass keine Wolken am
Himmel waren. So konnte sie ihre Wäsche auch draußen aufhängen.
Außerdem konnte sie beim Waschen das Dorf im Blick behalten, ohne
neugierig zu wirken.
Es
war schon beinahe hell und es herrschte arbeitsames Treiben im Dorf.
Doch nirgendwo hörte sie Geschwätz oder gar Gelächter. Wem hätte
an einem solchen Tag auch Fröhlichkeit einfallen können. Also
schrubbte sie ihre Laken und betete, während sie nach irgendeinem
Zeichen Ausschau hielt. Plötzlich sah sie, wie Erne durchs Dorf
rannte, während sie den Namen ihres Ältesten brüllte. Erschrocken
drehte sie sich um und blickte in die Richtung, in die Erne rannte.
Und tatsächlich, Dort kam Falk fast gemächlich über die Wiese
gelaufen. Alleine. Sie wusste nicht, ob sie sich freuen sollte, Falk
zu sehen oder entsetzt, weil Jona und Edgar nicht dabei waren. Auch
sie rannte ihm entgegen und aus den Augenwinkeln sah sie andere
Frauen dasselbe tun. Bald waren er und seine Mutter, die ihn herzte
und küsste, von Frauen und Kindern umringt. Falk schien seltsam
ruhig und gelassen zu sein, beinahe, als sei er gar nicht da. Erne
bestürmte ihn, zu sagen, wo seine Brüder seien, doch er blickte sie
nur ausdruckslos an. Also brachten sie ihn nach hause und drängten
sich alle in dem kleinen Raum zusammen, bis Erne sie alle hinauswarf.
Mittags
kamen die Männer einer nach dem anderen aus allen Richtungen ins
Dorf gelaufen. Aus südlicher Richtung kam gleich eine Gruppe von 5
Männern schnellen Schrittes auf das Dorf zu. Einer von ihnen trug
etwas. Ein Kind? Ja, als sie nahe genug heran waren, erkannte sie,
dass der Wengerer ein Kind trug und noch ein paar Augenblicke später
sah sie, dass es Edgar, der jüngste Hilgerer war. Ein Schauer der
Erleichterung schüttelte sie und als sie zum Haus der Hilgers rennen
wollte, um Erne davon zu berichten, sah sie, dass die Nollsche das
schon tat. Also blieb sie, wo sie war und schickte ein ums andere
Dankgebet in den Himmel.
Großes
Geschrei erklang vom Hilgerhof, als die Männer das Kind brachten.
Diesmal waren es nicht die Frauen, sondern die Männer, die
herbeiströmten und das kleine Haus bis beinahe zum Bersten füllten,
bis der Hilgerer das Haus erreichte und sie alle heraustraten. Dann
versammelten sie sich wieder in der Schankscheune und die Frauen
bereiteten einfache Mahlzeiten zu, um sie ihnen zu bringen und so
vielleicht das ein oder andere aufschnappen zu können. Sie gab erst
Peder und dann Wanjo eine Schüssel mit Brei und fragte ihn, was er
über die Jungen wisse, doch mit seinen 14 Jahren hatte er sich schon
viel von der einsilbigen, verschlossenen Art seines Vaters
angeeignet. Alles, was aus ihm herauszubringen war, besagte, dass sie
Edgar am Rande des Wäldchens in einem Gebüsch versteckt sitzend
gefunden hatten und dass niemand genau wusste, woher Falk gekommen
war. Der schien noch immer sprachlos zu sein.
Also
ging sie heim, weil es nicht schicklich gewesen wäre, länger den
Kreis der Männer zu stören.
Sie
beschloss, ihr Tagwerk zu verrichten und nicht weiter zu säumen,
denn einiges von der Arbeit ihres Mannes und ihres Sohnes lastete
heute auch noch auf ihren schmalen Schultern. Als sie am Abend müde
auf ihr Lager sank, dachte sie an die Männer und fragte sich, wie
sie das alles ohne Schlaf durchhielten.
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In
der Nacht wurde sie durch das Plätschern des Regens geweckt und fand
sich noch immer allein im Haus. Sie hörte, dass die Schüssel, die
sie unter der undichten Stelle des Daches stehen hatte, voll gelaufen
war und stand auf, um sie draußen auszuleeren. Schon längst hätte
Peder das Dach reparieren wollen, doch sie hatten kein Geld für den
Zimmerer, dessen Bretter gut, aber teuer waren. Also musste sie sich
mit der Schüssel behelfen, bis das nächste Lamm geboren und
ausgewachsen war, damit sie nach dem Schlachten seine Haut verwenden
konnten, um die Stelle abzudichten. Es war Halbmond und sie sah
schemenhaft das Dorf, das so friedlich und ruhig dalag, dass sie
sich einen Moment lang der Illusion hingab, dass alles in Ordnung
sei. Sie sah, dass es nicht mehr weit bis zum Morgengrauen war und
beschloss sich nicht mehr hinzulegen, um nicht zu verschlafen. In der
Ferne sah sie Fackelschein, der sich auf das Dorf zubewegte und
dachte, dass die Männer weit rausgegangen sein mussten, bei ihrer
Suche. Sie sah ihren Wanjo vor sich, der jetzt bei den anderen
Männern da draußen war. Ja, er war ein Mann geworden und doch
dachte sie immer wieder an die Zeit, in der er ein kleiner Hosenmatz
gewesen war. Das war doch noch gar nicht so lange her, dass sie ihn
auf ihren Knien gehalten hatte. Es war schwer, ihn loszulassen. Sie
hätte so gerne einen ganzen Stall voller Kinder gehabt, doch schon
seine Geburt hatte sie fast nicht überlebt. Das war nach dem
Hungerwinter gewesen und sie hatte so stark geblutet, dass ihr
ausgezehrter Körper beinahe aufgegeben hatte. Die Kräuterin hatte
alle Hände voll zu tun gehabt, sie am Leben zu halten. Danach hatte
Gott ihren Schoß wohl verschlossen, denn sie hatte kein Kind mehr
bekommen. Nachdenklich ging sie ins Haus zurück. Nachdem sie sich
gewaschen hatte, setzte sie Tee auf und ging danach wieder hinaus, um
die Männer beim Heimkommen zu beobachten. Vor der Türe hielt sie
irritiert inne, denn die Männer waren viel zu schnell näher
gekommen. Hatte sie sich in der Entfernung geirrt, als sie den
Fackelschein das erste Mal gesehen hatte? Sie starrte angestrengt als
sie leise Geräusche vernahm. Was war das? Pferde? Verwirrt ging sie
ins Haus, um das kochende Wasser vom Feuer zu nehmen und dann wieder
hinaus, um sich zu vergewissern. Doch, Pferdehufe. Viele Pferdehufe.
Gottseibeiuns, das konnte nichts gutes bedeuten. Also rannte sie
rufend und klopfend von Tür zu Tür, um die Frauen zu wecken,
während der Fackelschein immer näher kam und das Hufgetrappel immer
deutlicher wurde. Noch ehe alle Frauen und Kinder aus den Häusern
waren, waren die Reiter herangeprescht und hatten begonnen, mit
Schwertern auf die verschreckten Gestalten einzuschlagen und Fackeln
in die Häuser zu werfen. Sie sah die Kräuterin blutend
zusammenbrechen und aus den Augenwinkeln ein brennendes Kind aus dem
Nollhaus rennen. Dann rannte sie. Als sie nördlich aus dem Dorf
herausrannte, sah sie, dass auch von dort Fackelschein auf sie zukam
und so änderte sie in der Dunkelheit die Richtung. Der Lärm wurde
nach einer Weile leiser, aber sie hörte nicht auf, zu rennen, bis
ihre Lunge brannte. Ein Gebüsch nahm sie auf und sie verlangsamte
ihren Schritt, erleichtert, dass sie ein Versteck gefunden hatte und
entsetzt über das Sterben hinter ihr. Sie wunderte sich über das
dichte Unterholz, dann erkannte sie, wo sie war. Grauen erfasste sie.
Tränen strömten aus ihren Augen und sie betete, als sie hinter
einem weiteren Gebüsch den Boden unter den Füßen verlor. Sie
stürzte tief und als sie aufschlug, gewahrte sie einen winzigen
Moment lang wie alles in ihr brach.
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Der
Stadtrat hatte einstimmig den Beschluss gefasst, das Industriegebiet
zu bauen und entgegen der Bürgerproteste die uralten Ruinen zu
planieren. Viel war nicht übrig, doch das alte Dorf war ein
beliebtes Ausflugsziel und in der Nacht trafen sich hier die
Jugendlichen. Nun taten die Raupen, wozu sie gebaut wurden, während
2 Forstteams den kleinen Wald, der etwa 200 Meter dahinter stand, zu
roden begonnen hatten. Beim Liegenschaftsamt hatte niemand
herausfinden können, wem der Wald gehörte und warum er nicht einmal
eingetragen war. Aber im Krieg hatte das Rathaus gebrannt und daher
wunderte man sich nicht übermäßig darüber. Die Stadt hatte den
Wald kurzerhand beschlagnahmt und zur Rodung ausgeschrieben. Bis zum
Mittag waren etliche Bäume gefallen und abtransportiert worden, als
ein weiterer Baum nicht, wie erwartet fiel, sondern verschwand. Die
beiden Holzfäller traten durch das Gebüsch und der Vordermann wäre
beinahe in ein großes Loch gestürzt. Sofort stellten sie die
Arbeiten ein und benachrichtigten ihren Vorgesetzten.
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Siegfried
Herren betrachtete sinnend das Skelett vor sich, das fein säuberlich
sortiert auf dem Untersuchungstisch lag. Es war erstaunlich gut
erhalten, wenn man von den unzähligen Knochenbrüchen absah, die
wohl todesursächlich gewesen waren. Es war nur eines von vielen
menschlichen und tierischen Skeletten, die in der Höhle gefunden
worden waren. Die Höhle war eigentlich nur ein etwa 70 Meter tiefes
Loch mit einem kurzen Gang an ihrer südlichen Seite. Die Bergung der
Knochen war schwierig gewesen, aber nun waren sie im Institut
angekommen und lagen zur Untersuchung bereit. Die Frau vor ihm war
wohl um die 30 Jahre alt gewesen als sie starb. Die Zähne waren
abgenutzt, die Gelenke stellenweise verdickt, ein paar Haarbüschel,
die man ihr zuordnete blond. Direkt unter ihr hatte ein Kinderskelett
gelegen. Vielleicht ihres? Rechts von ihr noch ein Kind und etwas
weiter links noch ein anderes. Der Rest bestand aus Tierknochen.
Schafe, ein Pferd, ein Hund, mehrere Rinder, Rotwild und Schweine,
vermutlich Wildschweine. Unter den Knochen waren Felsbrocken und
Steine, als ob die Höhle einmal geschlossen gewesen und dann die
Decke eingestürzt war.
Gerne
hätte er gewusst, wie sie zu Lebzeiten ausgesehen haben mochte. War
sie hübsch gewesen? Wie war sie hierher gekommen? Waren das ihre
Kinder? Hatte sie vielleicht erweiterten Selbstmord begangen? Oder
war sie gar von ihrem Ehemann samt der Kinder umgebracht und hier
entsorgt worden? Schade, dass er das niemals würde herausfinden
können. Er zog an seiner Zigarette, legte den Kopf in den Nacken und
blies den Rauch an die Decke des Untersuchungsraumes.
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