Das Wäldchen


Im Inneren des Wäldchens lauerte etwas. Davon war sie seit Jahren überzeugt. Niemals würde sie auch nur einen Fuß in dieses Wäldchen setzen. Dabei wirkte es gar nicht bedrohlich. Es war nicht sehr groß und abgesehen vom dichten undurchschaubaren Unterholz hätte es ein Wäldchen, wie jedes andere sein können. Aber sie verspürte Unbehagen, wenn sie auch nur daran dachte und regelrecht Angst, wenn sie hinsah. Es lag in geringer Entfernung zur Südwiese, die ihr Mann Peder und ihr Sohn Wanjo 2 Mal im Jahr mähten. Tiere ließen sie dort keine mehr weiden, nachdem vor 10 Jahren ihr einziger Ackergaul von dort aus verschwunden war. Er war nie wieder aufgetaucht. Damals hatten sie nicht einmal vermutet, dass er gestohlen worden sein könnte, denn es war ja nicht das erste Mal gewesen, dass Tiere des Dorfes verschwanden. Es hatte sie beinahe ihre Existenz gekostet, denn ohne den Gaul war die steinige Scholle nicht zu pflügen. Nur der Umstand, dass der Onkel starb und Peder sein einziger lebender Verwandter gewesen war, brachte ihnen eine kleine Erbschaft, durch die sie den Gaul durch einen neuen hatten ersetzen können.
Es waren auch schon 2 Kinder verschwunden. Damals, vor 20 Jahren hatte es ein 11 jähriges Mädchen erwischt, das ins Nachbardorf zu einer Verwandten geschickt worden war und nie mehr gesehen wurde. Obwohl alle Männer des Dorfes beinahe eine Woche lang die Umgebung durchkämmten, war die Suche erfolglos geblieben. Danach hatten sie sich wieder ihren Höfen zugewandt, denn es war ja Erntezeit gewesen. Niemand konnte seine Ernte zu lange vernachlässigen, denn wenn die Frucht zu lange im Regen stand, verdarb ein Teil und das würde einen Hungerwinter bedeuten. Zumal das Kind eines von 8 Kindern der Familie und ein Mädchen gewesen war. Mädchen heirateten meist mit 14 Jahren und zogen auf den Hof ihres Mannes, der oft in einem anderen Dorf lag.
Für ihre Eltern wäre der Verlust eines ihrer Söhne also sehr viel dramatischer gewesen. Der Älteste übernahm den Hof und jüngere Söhne blieben entweder als Knechte oder gingen in eine Lehre beim Schmied, beim Zimmerer oder einem Kaufmann. In jedem Fall konnten sie dem elterlichen Hof in Notzeiten beistehen, während Mädchen mit einer Heirat völlig in die neue Familie eingingen und die alte ablegten.
Das 2. Kind war ein 10 jähriger Junge gewesen, der vor 8 Jahren auf dem Weg zur Klosterschule verschwand. Er war der jüngere Sohn des Kaufmannes Jensen gewesen, der es sich als einziger im Dorf hatte leisten können, seinen Jungen zur Schule zu schicken. Er litt schrecklich unter dem Verlust. Denn dieser Junge hätte ihn einst beerben sollen, weil der ältere Sohn blöd geboren worden war.
Ihrer Meinung nach hätte es besser den anderen getroffen. Das wäre kein großer Verlust gewesen. Soweit sie wusste, dachte das jeder im Dorf. Kirme Jensen war danach so schnell gealtert, dass sie manchmal dachte, sein Lebenslicht stehe in einem Sturm. Im vorigen Jahr war er dann auch gestorben. Merta, seine Frau und der blöde Sohn lebten seither von gesammelten und verkauften Kräutern und den kümmerlichen Almosen, die sie im Dorf erbetteln konnten.
Als vor 6 Jahren die 4 Schafe der Mandels aus ihrer aufgebrochenen Hürde verschwanden, an der kurz vorher die alte Müllersche vorbeigeschlurft war, kam im Dorf der Verdacht auf, dass diese einen bösen Fluch auf die Schafe gesprochen hatte. War die nicht auch beim Jensen gewesen, kurz bevor der Junge verschwunden war? Und hatte die Ells Witter nicht genau gesehen, dass sich die Müllersche genau auf Höhe der Hürde die Stirn gerieben hatte? In der Schankscheune berieten sich die Männer. Während die eine Hälfte dafür plädierte, den Abt Konwald aufzusuchen, mahnten die anderen, dass man nichts zu voreilig entscheiden solle. Denn man wisse ja, was eine Untersuchung durch den Abt bedeute.
Allerdings starb die Müllersche 3 Wochen nach dem Vorfall und damit kehrte erst einmal wieder Ruhe im Dorf ein. Sie selbst hatte nie daran geglaubt, dass die Müllersche eine Hexe war, sie hatte immer das Wäldchen im Verdacht – oder eben das, was in dem Wäldchen lauerte. Schon oft hatte sie auf dem Weg ins Nachbardorf das Wäldchen passieren müssen und jedes Mal hatte sie gehofft, dass es irgendwann einmal gerodet würde, denn den Weg darum herum zu nehmen dauerte fast eine halbe Stunde länger, als wenn man direkt dort durch gegangen wäre. Obwohl niemand darüber sprach, schienen alle Nachbarn das gleiche Unbehagen zu empfinden, denn niemand, den sie kannte, war je auf den Gedanken gekommen, einen Weg durch das Wäldchen zu bahnen. Aber genauso hatte nie ein Mann dort auch nur einen Baum geschlagen, um Brennholz daraus zu machen. Dabei hätte es jeder gedurft, denn der Grund gehörte niemandem. Nicht einmal das Kloster erhob Anspruch darauf. Das wiederum fand sie äußerst seltsam, denn die Kirche war ein gefräßiges Ungeheuer, das alles verschlang, dessen es habhaft werden konnte. Als sie Peder danach fragte, murmelte er nur, dass man nicht alle Mysterien ergründen müsse und dass ein neugieriges Weib so liebreizend sei, wie eine Fistel am Schinken. Also beließ sie es dabei und sprach nie wieder darüber. Nur ihre Gedanken, die konnte ihr niemand verbieten.
Heute Morgen sah sie einen Hund hinter einem Kaninchen herjagen, schnurgerade dem Wäldchen zu, gerade als sie sich ins Nachbardorf aufmachen wollte, um ein paar Wollknäuel zu verkaufen, die sie aus der Schafwolle ihrer 2 Schafe gesponnen hatte. Peder hatte sie in der Woche zuvor geschoren und nachdem sie die Wolle gereinigt und versorgt hatte, hatte sie Abend für Abend gesponnen, bis sie jetzt einen Korb voll auf den Markt bringen konnte. Wie oft hatte sie sich schon gewünscht, der Markt sei in ihrem Dorf, dann hätte sie es nicht immer so weit gehabt, aber Abt Konwald hatte ihrem Dorf keine Konzession gegeben, da das Nachbardorf mehr dafür hatte zahlen können. Ein Markt bedeutete für jedes Dorf natürlich Einnahmen und Ansehen, denn alle Dörfer im Umkreis mussten ihre Waren in dem Dorf anbieten, das den Markt hatte. Manche Bauern mussten dazu so weit laufen, dass sie ihre Waren lieber den Kaufmännern mitgaben und dafür weniger Geld erhielten. Aber besser das, als die Arbeit auf dem Hof liegen zu lassen.
Sie hatte natürlich eigentlich Glück, denn so weit war das Nachbardorf nicht entfernt, dass sie ihre Wolle oder die Kräuter, die sie ab und an verkaufte an einen Kaufmann hätte verscherbeln müssen. Ja, sie waren arm, aber nicht so arm, dass sie … Sie brach mitten in ihrem Gedanken ab, als das Kaninchen und der Hund in die Büsche des Wäldchens sprangen. Ein Schaudern überlief sie, denn der Hund war so gut wie tot. War das nicht der Hofhund der Hilgens? Hatte der nicht diesen markanten Flecken auf der Stirn gehabt? Der war doch eigentlich mit einem Seil an seiner Hütte festgebunden, da er früher schon öfter ausgebüchst war. Immer war er zurückgekommen, aber einmal hatte er eines der Hühnerküken vom Nollhof im Maul und den schimpfenden Nollbauern hinter sich gehabt. Damit war sein freier Auslauf gestrichen. Und er war ein wahrhaft glücklicher Hund, weil er immerhin noch lebte. Wäre es nach Edning Noll gegangen, hätte man ihm wegen des Kükens das Fell über die Ohren gezogen.
Damals hatte er Glück gehabt, jetzt aber war er wohl selber Beute geworden.
Tief in Gedanken zog sie ihres Weges und war froh, als sie später ihre Wolle auf dem Markt zu einem akzeptablen Preis loswerden konnte. Wie gern hätte sie für sich selbst daraus eine warme Weste gemacht. Die Winter waren kalt und ihre alte Weste hatte mehr Flicken als sie zählen konnte. Seufzend machte sie sich auf den Heimweg.
Unterwegs dachte sie an den Hund und fragte sich, ob sie zu Erne Hilgen am anderen Ende des Dorfes vorbeischauen sollte, um zu sehen, ob er wieder aufgetaucht war, aber als sie an ihrem Haus angekommen war, war sie zu müde, um noch weiter zu laufen. Außerdem war es doch später geworden, als sie gedacht hatte. Die Sonne stand schon tief und als sie an die Arbeit dachte, die sie heute noch erledigen musste, sprach sie ein kurzes Gebet, in dem sie Gott um Kraft bat und betrat den Stall.

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Sie wurde durch laute Rufe geweckt. Erschrocken stand sie von ihrem Lager auf und sah, dass Peder und Wanjo schon zur Tür heraus waren. Schnell warf sie sich ihr Kleid und die Haube über und rannte hinaus. Sie musste zuerst am Riedhof, dann am Hof der Mengens und dann am Nollhof vorbei um den Dorfplatz zu erreichen, der von Fackeln hell erleuchtet war. Alle redeten durcheinander und alles, was sie verstand, war, dass Kinder in der Nacht gestohlen worden seien und dass die Männer jetzt suchen gingen. Und wenn sie den Übeltäter erwischten, - in Scheiben schneiden würden sie den Dreckskerl, in Fetzen reißen, den Teufelsbuhlen, auf dem offenen Feuer würden sie den Mistsack rösten. Auf die Frage, wessen Kinder denn verschwunden seien, erfuhr sie, dass es die 3 Hilgensjungen waren, die wohl gestern noch mit den Eltern zusammen schlafen gegangen seien, aber nicht mehr auf ihren Lagern gewesen waren, als ihre Mutter in der Nacht austreten musste. Erschrocken dachte sie an den Hund und suchte nach Erne, um ihr ihr Mitleid auszudrücken und nebenbei zu erfahren, ob die Jungen vielleicht nach dem Hund gesucht haben könnten. Als sie die Hilgersche fand, war diese jedoch zu aufgelöst, um etwas gescheiteres als „Gottseibeiuns“ zu brabbeln. Also schaute sie den Männern beim Aufbruch zu und ging dann zum Hof der Hilgens, um zu sehen, ob der Hund vielleicht dort aufgetaucht sei, doch das Seil lag verwaist vor seiner Hütte.
Tief in Sorge ging sie nun zurück zu ihrem Haus und begann ihr Tagwerk. Sie ahnte es nicht, - sie wusste es. Dass die einzigen Kinder der Hilgens ihren Hund gesucht hatten, den sie von Herzen gern hatten und dass sie am Abend nicht hatten weitersuchen dürfen, sondern mit den Eltern schlafen gehen mussten. Dass sie heimlich weitergesucht hatten, nachdem ihre Eltern eingeschlafen waren. Dass sie.... nein, wie sehr hoffte sie, dass sie sich irrte. Erne, die fast so etwas wie eine Freundin für sie war, hatte ihren Michel schon mit 12 Jahren heiraten müssen, weil ihre Eltern zu arm gewesen waren das unnütze Kind noch länger durchzufüttern. Michel war damals schon 15 gewesen, mit seinem groben Vierkantgesicht nicht sehr ansehnlich und daher kein „Wahl - Ehemann“ irgend eines Mädchens. Auch Erne hätte lieber einen anderen gehabt, aber die Hilgens brauchten für ihren Ältesten eine Frau und Ernes Vater war froh, sie los zu sein und so heirateten die beiden.
Gleich 3 Jungen in 3 Jahren bekam sie. Kaum war der eine raus, war der nächste im Bauch. Doch dann hatte sie eine Fehlgeburt, an der sie beinahe starb. Die Kräuterin hatte ihnen beiden ernstlich zugeredet, es jetzt mit dem Beischlafen sein zu lassen, denn wenn die Erne stürbe, wer würde dann die Bälger aufziehen und die Arbeit übernehmen, die die Frauen ja reichlich hatten? So war es also bei den 3 Jungen geblieben und nun waren die gestohlen. Oder vielleicht doch bei der Suche nach ihrem Hund ins Wäldchen gelaufen?
Gedankenschwer erwartete sie ihren Peder und Wanjo zurück, um zu erfahren, ob die Jungen gefunden seien, doch als die beiden eintrafen las sie schon an ihren Blicken, dass sie gar nicht fragen brauchte. Während des einfachen Abendessens wollte sie dennoch wissen, wie man darauf käme, dass sie gestohlen seien oder ob sie nicht auch ausgerissen sein könnten, um den Hund zu finden, doch Peder blieb einsilbig und vage. Danach verschwanden er und Wanjo und sie vermutete, dass sie in der Schankscheune mit den anderen Männern zusammentrafen, um sich mit ihnen zu beraten. Zu gerne wäre sie lauschen gegangen, aber sie wusste, dass ihr Mann es nicht geschätzt hätte, wenn er es herausgefunden hätte. So legte sie sich schlafen und wusste doch, dass sie kein Auge zubekommen könnte.

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Sie musste wohl doch irgendwann eingeschlafen sein, denn das nächste, was sie hörte, war das Krähen ihres Hahns. Peder lag nicht neben ihr und sie fragte sich, ob er überhaupt nach Hause gekommen war.
Müde stand sie auf, nahm ein paar getrocknete Pfefferminzblätter und kochte genug Wasser, um daraus Tee für die beiden hoffentlich bald Heimkommenden zu machen. Gerne hätte sie ihn gesüßt, doch Honig hatte schon seit längerem keinen mehr. Auf dem Markt war er zu teuer und Peder hatte bis in den Herbst hinein keine Zeit, um Wildbienenstöcke zu suchen. Danach ging sie an den Brunnen, um Waschwasser zu holen und es in den Waschzuber vor der Türe zu gießen. Heute war Waschtag, und sie war froh, dass keine Wolken am Himmel waren. So konnte sie ihre Wäsche auch draußen aufhängen. Außerdem konnte sie beim Waschen das Dorf im Blick behalten, ohne neugierig zu wirken.
Es war schon beinahe hell und es herrschte arbeitsames Treiben im Dorf. Doch nirgendwo hörte sie Geschwätz oder gar Gelächter. Wem hätte an einem solchen Tag auch Fröhlichkeit einfallen können. Also schrubbte sie ihre Laken und betete, während sie nach irgendeinem Zeichen Ausschau hielt. Plötzlich sah sie, wie Erne durchs Dorf rannte, während sie den Namen ihres Ältesten brüllte. Erschrocken drehte sie sich um und blickte in die Richtung, in die Erne rannte. Und tatsächlich, Dort kam Falk fast gemächlich über die Wiese gelaufen. Alleine. Sie wusste nicht, ob sie sich freuen sollte, Falk zu sehen oder entsetzt, weil Jona und Edgar nicht dabei waren. Auch sie rannte ihm entgegen und aus den Augenwinkeln sah sie andere Frauen dasselbe tun. Bald waren er und seine Mutter, die ihn herzte und küsste, von Frauen und Kindern umringt. Falk schien seltsam ruhig und gelassen zu sein, beinahe, als sei er gar nicht da. Erne bestürmte ihn, zu sagen, wo seine Brüder seien, doch er blickte sie nur ausdruckslos an. Also brachten sie ihn nach hause und drängten sich alle in dem kleinen Raum zusammen, bis Erne sie alle hinauswarf.
Mittags kamen die Männer einer nach dem anderen aus allen Richtungen ins Dorf gelaufen. Aus südlicher Richtung kam gleich eine Gruppe von 5 Männern schnellen Schrittes auf das Dorf zu. Einer von ihnen trug etwas. Ein Kind? Ja, als sie nahe genug heran waren, erkannte sie, dass der Wengerer ein Kind trug und noch ein paar Augenblicke später sah sie, dass es Edgar, der jüngste Hilgerer war. Ein Schauer der Erleichterung schüttelte sie und als sie zum Haus der Hilgers rennen wollte, um Erne davon zu berichten, sah sie, dass die Nollsche das schon tat. Also blieb sie, wo sie war und schickte ein ums andere Dankgebet in den Himmel.
Großes Geschrei erklang vom Hilgerhof, als die Männer das Kind brachten. Diesmal waren es nicht die Frauen, sondern die Männer, die herbeiströmten und das kleine Haus bis beinahe zum Bersten füllten, bis der Hilgerer das Haus erreichte und sie alle heraustraten. Dann versammelten sie sich wieder in der Schankscheune und die Frauen bereiteten einfache Mahlzeiten zu, um sie ihnen zu bringen und so vielleicht das ein oder andere aufschnappen zu können. Sie gab erst Peder und dann Wanjo eine Schüssel mit Brei und fragte ihn, was er über die Jungen wisse, doch mit seinen 14 Jahren hatte er sich schon viel von der einsilbigen, verschlossenen Art seines Vaters angeeignet. Alles, was aus ihm herauszubringen war, besagte, dass sie Edgar am Rande des Wäldchens in einem Gebüsch versteckt sitzend gefunden hatten und dass niemand genau wusste, woher Falk gekommen war. Der schien noch immer sprachlos zu sein.
Also ging sie heim, weil es nicht schicklich gewesen wäre, länger den Kreis der Männer zu stören.
Sie beschloss, ihr Tagwerk zu verrichten und nicht weiter zu säumen, denn einiges von der Arbeit ihres Mannes und ihres Sohnes lastete heute auch noch auf ihren schmalen Schultern. Als sie am Abend müde auf ihr Lager sank, dachte sie an die Männer und fragte sich, wie sie das alles ohne Schlaf durchhielten.

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In der Nacht wurde sie durch das Plätschern des Regens geweckt und fand sich noch immer allein im Haus. Sie hörte, dass die Schüssel, die sie unter der undichten Stelle des Daches stehen hatte, voll gelaufen war und stand auf, um sie draußen auszuleeren. Schon längst hätte Peder das Dach reparieren wollen, doch sie hatten kein Geld für den Zimmerer, dessen Bretter gut, aber teuer waren. Also musste sie sich mit der Schüssel behelfen, bis das nächste Lamm geboren und ausgewachsen war, damit sie nach dem Schlachten seine Haut verwenden konnten, um die Stelle abzudichten. Es war Halbmond und sie sah schemenhaft das Dorf, das so friedlich und ruhig dalag, dass sie sich einen Moment lang der Illusion hingab, dass alles in Ordnung sei. Sie sah, dass es nicht mehr weit bis zum Morgengrauen war und beschloss sich nicht mehr hinzulegen, um nicht zu verschlafen. In der Ferne sah sie Fackelschein, der sich auf das Dorf zubewegte und dachte, dass die Männer weit rausgegangen sein mussten, bei ihrer Suche. Sie sah ihren Wanjo vor sich, der jetzt bei den anderen Männern da draußen war. Ja, er war ein Mann geworden und doch dachte sie immer wieder an die Zeit, in der er ein kleiner Hosenmatz gewesen war. Das war doch noch gar nicht so lange her, dass sie ihn auf ihren Knien gehalten hatte. Es war schwer, ihn loszulassen. Sie hätte so gerne einen ganzen Stall voller Kinder gehabt, doch schon seine Geburt hatte sie fast nicht überlebt. Das war nach dem Hungerwinter gewesen und sie hatte so stark geblutet, dass ihr ausgezehrter Körper beinahe aufgegeben hatte. Die Kräuterin hatte alle Hände voll zu tun gehabt, sie am Leben zu halten. Danach hatte Gott ihren Schoß wohl verschlossen, denn sie hatte kein Kind mehr bekommen. Nachdenklich ging sie ins Haus zurück. Nachdem sie sich gewaschen hatte, setzte sie Tee auf und ging danach wieder hinaus, um die Männer beim Heimkommen zu beobachten. Vor der Türe hielt sie irritiert inne, denn die Männer waren viel zu schnell näher gekommen. Hatte sie sich in der Entfernung geirrt, als sie den Fackelschein das erste Mal gesehen hatte? Sie starrte angestrengt als sie leise Geräusche vernahm. Was war das? Pferde? Verwirrt ging sie ins Haus, um das kochende Wasser vom Feuer zu nehmen und dann wieder hinaus, um sich zu vergewissern. Doch, Pferdehufe. Viele Pferdehufe. Gottseibeiuns, das konnte nichts gutes bedeuten. Also rannte sie rufend und klopfend von Tür zu Tür, um die Frauen zu wecken, während der Fackelschein immer näher kam und das Hufgetrappel immer deutlicher wurde. Noch ehe alle Frauen und Kinder aus den Häusern waren, waren die Reiter herangeprescht und hatten begonnen, mit Schwertern auf die verschreckten Gestalten einzuschlagen und Fackeln in die Häuser zu werfen. Sie sah die Kräuterin blutend zusammenbrechen und aus den Augenwinkeln ein brennendes Kind aus dem Nollhaus rennen. Dann rannte sie. Als sie nördlich aus dem Dorf herausrannte, sah sie, dass auch von dort Fackelschein auf sie zukam und so änderte sie in der Dunkelheit die Richtung. Der Lärm wurde nach einer Weile leiser, aber sie hörte nicht auf, zu rennen, bis ihre Lunge brannte. Ein Gebüsch nahm sie auf und sie verlangsamte ihren Schritt, erleichtert, dass sie ein Versteck gefunden hatte und entsetzt über das Sterben hinter ihr. Sie wunderte sich über das dichte Unterholz, dann erkannte sie, wo sie war. Grauen erfasste sie. Tränen strömten aus ihren Augen und sie betete, als sie hinter einem weiteren Gebüsch den Boden unter den Füßen verlor. Sie stürzte tief und als sie aufschlug, gewahrte sie einen winzigen Moment lang wie alles in ihr brach.

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Der Stadtrat hatte einstimmig den Beschluss gefasst, das Industriegebiet zu bauen und entgegen der Bürgerproteste die uralten Ruinen zu planieren. Viel war nicht übrig, doch das alte Dorf war ein beliebtes Ausflugsziel und in der Nacht trafen sich hier die Jugendlichen. Nun taten die Raupen, wozu sie gebaut wurden, während 2 Forstteams den kleinen Wald, der etwa 200 Meter dahinter stand, zu roden begonnen hatten. Beim Liegenschaftsamt hatte niemand herausfinden können, wem der Wald gehörte und warum er nicht einmal eingetragen war. Aber im Krieg hatte das Rathaus gebrannt und daher wunderte man sich nicht übermäßig darüber. Die Stadt hatte den Wald kurzerhand beschlagnahmt und zur Rodung ausgeschrieben. Bis zum Mittag waren etliche Bäume gefallen und abtransportiert worden, als ein weiterer Baum nicht, wie erwartet fiel, sondern verschwand. Die beiden Holzfäller traten durch das Gebüsch und der Vordermann wäre beinahe in ein großes Loch gestürzt. Sofort stellten sie die Arbeiten ein und benachrichtigten ihren Vorgesetzten.

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Siegfried Herren betrachtete sinnend das Skelett vor sich, das fein säuberlich sortiert auf dem Untersuchungstisch lag. Es war erstaunlich gut erhalten, wenn man von den unzähligen Knochenbrüchen absah, die wohl todesursächlich gewesen waren. Es war nur eines von vielen menschlichen und tierischen Skeletten, die in der Höhle gefunden worden waren. Die Höhle war eigentlich nur ein etwa 70 Meter tiefes Loch mit einem kurzen Gang an ihrer südlichen Seite. Die Bergung der Knochen war schwierig gewesen, aber nun waren sie im Institut angekommen und lagen zur Untersuchung bereit. Die Frau vor ihm war wohl um die 30 Jahre alt gewesen als sie starb. Die Zähne waren abgenutzt, die Gelenke stellenweise verdickt, ein paar Haarbüschel, die man ihr zuordnete blond. Direkt unter ihr hatte ein Kinderskelett gelegen. Vielleicht ihres? Rechts von ihr noch ein Kind und etwas weiter links noch ein anderes. Der Rest bestand aus Tierknochen. Schafe, ein Pferd, ein Hund, mehrere Rinder, Rotwild und Schweine, vermutlich Wildschweine. Unter den Knochen waren Felsbrocken und Steine, als ob die Höhle einmal geschlossen gewesen und dann die Decke eingestürzt war.
Gerne hätte er gewusst, wie sie zu Lebzeiten ausgesehen haben mochte. War sie hübsch gewesen? Wie war sie hierher gekommen? Waren das ihre Kinder? Hatte sie vielleicht erweiterten Selbstmord begangen? Oder war sie gar von ihrem Ehemann samt der Kinder umgebracht und hier entsorgt worden? Schade, dass er das niemals würde herausfinden können. Er zog an seiner Zigarette, legte den Kopf in den Nacken und blies den Rauch an die Decke des Untersuchungsraumes.



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